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Warum wir etwas über Fundamentalismus schreiben
Die meisten der sogenannten christlichen Konfessionen und Religionsgemeinschaften bezeichnen in offiziellen Dokumenten die Schriften des Alten und des Neuen Testaments als von Gott inspiriertes Wort. Allerdings bestehen große Unterschiede im Verständnis dessen, wie Gott den Autoren eingegeben habe, was sie sagen oder schreiben sollen. Manche Menschen, zu denen auch wir uns zählen, gehen von einer echten Zusammenarbeit zwischen Gott und Schreiber aus, wobei Letzterer volle Verantwortung für seine Interpretation der göttlichen Gedanken trägt. Die Bibel ist somit Gottes Botschaft, durch Menschenhand vermittelt.
Dagegen sind heute viele Theologen in den sogenannten Volkskirchen sehr liberal. Ihre Skepsis gegenüber wirklicher Offenbarung und Prophetie führt dazu, Gottes Einfluss auf die Schriften der Bibel eher zu leugnen, sie also de facto als rein menschliches Werk zu betrachten.
Diese Herangehensweise an die Heilige Schrift ist eine der Ursachen für das Aufkommen des Fundamentalismus. Es ist natürlich verständlich, einen Text zuerst einmal so zu nehmen, wie er „dasteht“ und nicht gleich umzudeuten. Wenn man die Absicht des Schreibers verstehen will, wird man auch sehen, ob seine Aussagen buchstäblich oder bildlich gemeint sind. Problematisch wird es, wenn man nicht mehr unvoreingenommen an den Text herangeht. So hat sich etwa der Katholizismus lange Zeit aus Furcht vor Machtverlust mit fundamentalistischen Argumenten gegen Bibelkritik und Naturforschung gewandt. Den wissenschaftlich-technischen Fortschritt betrachtete man als Teufelszeug.
Heutige Fundamentalisten tun dies im Allgemeinen nicht. Sie erkennen meist an, dass die Bibel kein naturwissenschaftliches Buch ist, behaupten aber dennoch, dass man in ihr keine Widersprüche zur Wissenschaft fände. Um diese These auch im Bezug auf die Entstehung des Universums und des Lebens halten zu können, hat sich ein besonderer Zweig des Fundamentalismus herausgebildet: der Kreationismus. Dessen Vertreter haben maßgeblichen Anteil daran, dass das Christentum immer häufiger als Feind der Wissenschaft angesehen wird.
Grundlage für den Fundamentalismus ist die Ansicht, Gott habe jedes einzelne Wort den jeweiligen Schreibern direkt eingegeben. Man spricht auch gern von vollständiger und verbaler Inspiration der Heiligen Schrift.
Wir sehen sowohl in der liberalen Theologie als auch im Fundamentalismus Extreme, die dem Wesen Gottes und seines Wortes nicht gerecht werden. Im Folgenden wollen wir einerseits in groben Zügen unsere Auffassung von Inspiration darlegen und andererseits aufzeigen, dass das fundamentalistische Bibelverständnis mit dem Zeugnis der Heiligen Schrift nicht zu vereinbaren ist und oft sogar vom Wesentlichen ablenkt.
Die Schriften der Bibel – von Gott inspiriert
Warum nehmen wir an, dass die Bibel die von Gott gegebene Heilige Schrift ist? Wurde sie doch nicht in unbekannter Sprache auf Goldenen Platten (die später wieder verschwanden) durch einen Engel überreicht (wie angeblich das Buch Mormon). Auch ist sie nicht einem einzigen Menschen durch geheimnisvolles Diktat eines Engels „offenbart“ worden (wie es Muslime vom Koran glauben). Derartige Bücher waren vom jeweiligen Verfasser schon im Vorhinein als „heilige“ Schriften gedacht worden. Die Bibel hingegen ist eine Zusammenstellung von Schriften unterschiedlichen Charakters, die noch dazu aus verschiedenen Zeiten stammen. Wir können vermuten, dass sich die meisten der Autoren über den geistlichen Wert ihrer Werke bewusst waren, aber keiner die Absicht hatte, die Bibel zu schreiben. Mittelpunkt all dieser Bücher ist Gott und Sein Wirken in der Geschichte Israels bis hin zu dem Punkt, an dem Er selbst Mensch wurde. Nicht Geschichte um ihrer selbst willen ist das Ziel. Der Mensch soll Gott sowie Ursprung und Ziel seines Lebens kennen lernen! Kein anderes Buch zeichnet ein so klares Bild von Gott und seinem Willen, der sich gegen das richtet, was vielen Menschen so nahe liegt: Hochmut, Eigensinn und Lasterhaftigkeit. Er, der die Menschheit aus Liebe erschuf, lässt seine Geschöpfe nicht im Unklaren über seinen Heilsplan und darüber, was er von uns fordert, damit wir nicht am Ziel des Lebens vorbeigleiten. Jeder soll eine freie Entscheidung treffen, ob er Gott lieben will oder nicht. Um diese Freiheit zu wahren, zwingt er uns die Erkenntnis seiner Größe und Gnade nicht auf, sondern hat in seiner Weisheit gläubige Menschen alles erfahren und sagen lassen, was uns die Beziehung zu ihm möglich macht. Wer nicht nach ihm fragt und andere Götter, Wege und „Wahrheiten“ sucht, kann die Bibel auch als irriges Menschenwort oder gar als Fälschung und Betrug abtun.
Wie sollen wir uns nun den Vorgang der Inspiration vorstellen? Am Beispiel der Propheten sehen wir, dass diese durch ihre Liebe zu Wahrheit und Gerechtigkeit für Gottes Befehle und Gedanken sehr offen waren. So konnten sie Gottes Sprachrohr sein und mit Leib und Leben hinter den Worten Gottes stehen:
Und ich hörte die Stimme des Herrn, der sprach: Wen soll ich senden, und wer wird für uns gehen? Da sprach ich: Hier bin ich, sende mich! (Jesaja 6,8)
Das Wort, das vom HERRN zu Jeremia geschah: Stell dich in das Tor des Hauses des HERRN, rufe dort dieses Wort aus und sprich: Hört das Wort des HERRN, ganz Juda, die ihr durch diese Tore kommt, um den HERRN anzubeten! So spricht der HERR der Heerscharen, der Gott Israels: Macht gut eure Wege und eure Taten, dann will ich euch an diesem Ort wohnen lassen! (Jeremia 7,1–3)
Ihre Worte, in Wahrheit und Aufrichtigkeit gesprochen, stießen oft auf Ablehnung. Doch sogar in Todesgefahr ließen sie nicht ab, das Volk Israel zu ermahnen, aufrichtig, demütig und treu zu sein, das Gute zu lieben und das Böse zu hassen. Niemals ging es ihnen dabei um den eigenen Ruhm. Nein, sie liebten Gott und handelten zu Seiner Ehre. Deshalb konnte Gott sie befähigen, seine Gedanken tief zu verstehen und auszusprechen. Das heißt aber gerade nicht, dass der Wille, die Vorstellungskraft, der Eifer und der Glaube dieser Menschen von Gott ausgeschaltet wurden. Im Gegenteil: All das ist geradezu Voraussetzung dafür, dass das Wort ein authentisches Zeugnis des Wirkens Gottes im Gläubigen ist. Völlig zurecht können wir sie daher als Autoren ihrer Schriften bezeichnen. So schreibt Petrus über das Wirken der Propheten:
Im Hinblick auf diese Rettung suchten und forschten Propheten, die über die an euch erwiesene Gnade weissagten. Sie forschten, auf welche oder auf was für eine Zeit der Geist Christi, der in ihnen war, hindeutete, als er die Leiden, die auf Christus kommen sollten, und die Herrlichkeiten danach vorher bezeugte. (1 Petrus 1,10f)
Diese Aussage beschreibt die Zusammenarbeit zwischen dem „Sender“ und dem „Empfänger“ der göttlichen Gedanken. Suchen und Forschen sind Tätigkeiten, die wir nur von Menschen, niemals aber von Gott erwarten können. Die Worte von Petrus beziehen sich konkret auf messianische Verheißungen. Er und alle Christen betrachten sie als in Jesus erfüllt, dennoch zeugen sie von den irdischen Hoffnungen und Vorstellungen der Schreiber:
Siehe, Tage kommen, spricht der HERR, da werde ich dem David einen gerechten Spross erwecken. Der wird als König regieren und verständig handeln und Recht und Gerechtigkeit im Land üben. In seinen Tagen wird Juda gerettet werden und Israel in Sicherheit wohnen. Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen wird: „Der HERR, unsere Gerechtigkeit“. Darum siehe, Tage kommen, spricht der HERR, da wird man nicht mehr sagen: So wahr der HERR lebt, der die Söhne Israel aus dem Land Ägypten heraufgeführt hat! — sondern: So wahr der HERR lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel heraufgeführt und sie gebracht hat aus dem Land des Nordens und aus all den Ländern, wohin ich sie vertrieben hatte! Und sie sollen in ihrem Land wohnen. (Jeremia 23,5–8)
Grundsätzlich richteten die Propheten ihre Worte an ihre Zeitgenossen, weshalb es uns manchmal schwerfällt, die Bedeutung der Bilder und Ausdrücke sofort richtig zu verstehen. Dennoch haben viele Inhalte zeitlosen Charakter. Jesajas scharfe Worte gegen die hochmütigen Frauen Jerusalems (Jesaja 3,16–24) verkündigen auch den heutigen eitlen Menschen Gottes Urteil. Die Gerichtsandrohungen des Jeremia betreffen die Israeliten der Zeit vor und während des babylonischen Exils (z. B. Jeremia 2), gelten jedoch jedem Menschen, der sich hochmütig von Gott abwendet. Umgekehrt gelten die Worte über Reue, Umkehr und Heil denen, die Gottes Segnungen in der jeweiligen historischen Situation erfuhren (z. B. Jesaja 57,14f), doch sind sie Trost und Hoffnung für alle demütigen Menschen. Geformt wurden all diese Worte durch den jeweiligen Autor, immer aber steht Gottes Autorität dahinter. Dies bezeugt auch Petrus, wenn er sagt:
Und so besitzen wir das prophetische Wort umso fester, und ihr tut gut, darauf zu achten als auf eine Lampe, die an einem dunklen Ort leuchtet, bis der Tag anbricht und der Morgenstern in euren Herzen aufgeht, indem ihr dies zuerst wisst, dass keine Weissagung der Schrift aus eigener Deutung geschieht. Denn niemals wurde eine Weissagung durch den Willen eines Menschen hervorgebracht, sondern von Gott her redeten Menschen, getrieben von Heiligem Geist. (2 Petrus 1,19–21)
Wer die Bibel mit ehrlichem Interesse liest, um Gott kennenzulernen und seine Weisungen anzunehmen, wird die große Einheit der Zeugnisse der Schreiber erkennen und trotzdem bemerken, dass jeder von ihnen gewisse Eigenheiten hat. Die Autoren haben der Botschaft Gottes jeweils ihren eigenen Stempel aufgedrückt, was alle Exegeten grundsätzlich anerkennen. Daraus müssen wir schließen, dass es unabdingbar ist, über die Anliegen und die verwendeten Stilmittel der Autoren nachzudenken, um den Sinn der Texte richtig zu erfassen. Es bleibt dann nicht verborgen, dass manche Angaben übertrieben oder im Widerspruch zu anderen Informationen zu stehen scheinen. Beim weiteren Nachdenken werden sich zwar viele derartige Probleme lösen lassen, jedoch gibt es tatsächlich Spannungen und Ungenauigkeiten. Angesichts dessen sollen wir nicht das Vertrauen verlieren und die Bibel aus der Hand legen. Aber ignorieren dürfen wir solche Schwierigkeiten auch nicht! Vielmehr sind wir überzeugt, dass es für unseren Glauben wichtig ist, zu solchen Unzulänglichkeiten zu stehen. Dann können wir erkennen, worauf es Gott tatsächlich ankommt und wie wunderbar seine Heilsbotschaft ist.
Dass diese Schriften den Geist Gottes atmen, haben gläubige Zeitgenossen sowie Gläubige späterer Generationen erkannt und sie daher bewahrt und vervielfältigt. Wir sind überzeugt, dass auch hierbei Gottes Führung die entscheidende Rolle spielte. Nicht Versammlungen von Gelehrten, welche zum Großteil selbst nicht in Gottes Wegen wandelten, haben diese Bücher zu Heiligen Schriften gemacht. Diese Entscheidung war durch Gebrauch und Überlieferung der Gläubigen bereits gefallen. Die Juden zur Zeit Jesu jedenfalls scheinen sich über den Umfang der Schrift einig gewesen zu sein, so dass sie verwundert fragen konnten:
Wie kennt dieser die Schriften, da er doch nicht gelernt hat? (Johannes 7,15)
Und Jesus wirft seinen Gegnern vor:
Ihr erforscht die Schriften, denn ihr meint, in ihnen ewiges Leben zu haben, und sie sind es, die von mir zeugen; und ihr wollt nicht zu mir kommen, damit ihr Leben habt. (Johannes 5,39f)
Ähnlich verhält es sich im Falle des Neuen Testaments, nur dass es eben die im Römischen Reich verstreut lebenden Christen waren, welche die für sie so kostbaren Schriften lasen, bewahrten und vervielfältigten.
Schon Briefe des Neuen Testaments bezeugen, dass die frühen Christen nicht nur Gesetz, Propheten und Psalmen (siehe Lukas 24,27.44), sondern auch Texte über Jesus und Briefe des Paulus als Heilige Schrift betrachteten:
Denn die Schrift sagt: „Du sollst dem Ochsen, der da drischt, nicht das Maul verbinden“, und: „Der Arbeiter ist seines Lohnes wert.“ (1 Timotheus 5,18)
Paulus zitiert hier neben Deuteronomium 25,4 auch eine Aussage Jesu, die wir in Lukas 10,7 (ähnlich auch in Matthäus 10,10) finden. Das zeigt klar, dass die Christen nicht erst durch das Ausbleiben der von ihnen angeblich bald erwarteten Wiederkunft anfingen, die Lehre Jesu schriftlich festzuhalten, wie immer wieder behauptet wird.
Und Petrus schreibt in seinem zweiten Brief:
Und seht in der Langmut unseres Herrn die Rettung, wie auch unser geliebter Bruder Paulus nach der ihm gegebenen Weisheit euch geschrieben hat, wie auch in allen Briefen, wenn er in ihnen von diesen Dingen redet. In diesen Briefen ist einiges schwer zu verstehen, was die Unwissenden und Ungefestigten verdrehen, wie auch die übrigen Schriften zu ihrem eigenen Verderben. (2 Petrus 3,15f)
Die von ihm erwähnten übrigen Schriften können nur die anderen Heiligen Schriften sein, also das Alte Testament und andere Schriften des Neuen Testaments. Über den Umfang der Schriften jedenfalls scheinen Petrus und seine Adressaten einer Meinung zu sein.
Nach Paulus verfolgt Gott mit der Heiligen Schrift ein Hauptziel:
Das Endziel der Weisung aber ist Liebe aus reinem Herzen und gutem Gewissen und ungeheucheltem Glauben. (1 Timotheus 1,5)
Und der Nutzen aller Schrift liegt in der Unterweisung zur Gerechtigkeit:
Alle Schrift ist von Gott eingegeben und nützlich zur Lehre, zur Überführung, zur Zurechtweisung, zur Unterweisung in der Gerechtigkeit, damit der Mensch Gottes richtig sei, für jedes gute Werk ausgerüstet. (2 Timotheus 3,16–17)
– und eben nicht im Mitteilen wissenschaftlicher Fakten. Wenn wir uns die Bibel anschauen, können wir sehen, dass nicht jedes Wort oder jeder Inhalt genau den von Paulus beschriebenen Nutzen hat, wohl aber dient jede einzelne Schrift – in unterschiedlichem Maße – diesem Ziel. Gott will die Umkehr der Menschen, damit sie nicht in ihren Sünden verharren oder in sie zurückfallen und so das ewige Leben nicht erlangen. Wir dürfen also von der Schrift erwarten, dass sie uns die Realität Gottes und seinen Willen so vermittelt, dass wir uns danach ausrichten und verändern können. Dass man dazu eine offene und aufrichtige Gesinnung braucht, drückt Paulus mit dem Begriff „Mensch Gottes“ aus. Ein Mensch, der Gott nicht sucht oder der sich sein Bild von Gott selbst erdenkt, wird mit dieser Haltung die wesentlichen Aussagen der Schrift nicht verstehen oder andere Dinge für wichtig erachten. Gerade diese Ablenkung vom Wesentlichen ist ein Kennzeichen des Fundamentalismus.
Der Begriff „Fundamentalismus“
Das Wort „Fundamentalismus“ lässt viele zuerst an militante, sich auf den Islam berufende Bewegungen denken. Mitunter werden auch Mitglieder von Religionsgemeinschaften, die in ihren eigenen Augen meinen, den Glauben ernst zu nehmen, als Fundamentalisten bezeichnet. Der Begriff hat dann einen negativen Beigeschmack, weil man ihn mit Engstirnigkeit in religiösen, gesellschaftlichen oder politischen Ansichten verbindet. Manche Menschen werden als Fundamentalisten bezeichnet, weil sie sich klar gegen Abtreibung aussprechen oder gleichgeschlechtliche Partnerschaften als Verirrung ansehen. Es ist leider üblich, mit negativ beladenen Begriffen Menschen zu verunglimpfen, die durch ihr Festhalten an klaren ethischen Grundsätzen gegen den allgemeinen Trend zur „wertfreien“ Toleranz vielen ein Dorn im Auge sind.
Wir aber verwenden im Folgenden dieses Wort nur für die Vertreter des sogenannten biblischen Fundamentalismus. Der Begriff wurde nämlich am Anfang des letzten Jahrhunderts von eben solchen Menschen geprägt, die zeigen wollten, dass der „Fundamentalist“ an gewisse Grundlagen (englisch: fundamentals) glaubt, die natürlich schon früher als wesentliche Elemente dieses Denkens galten. Als Reaktion auf die liberale Theologie wurden auf verschiedenen Konferenzen Grundsätze formuliert, die fortan als „fundamentals“ gemeinsam geglaubt werden sollten, ohne weiterhin in Frage gestellt zu werden. Die „Niagara Bible Conferences“, die von 1876 bis 1897 jährlich stattfanden, zählen zu den wichtigsten und sollen hier beispielhaft erwähnt werden. Auf der Konferenz des Jahres 1878 wurden vierzehn Artikel als Glaubensbekenntnis formuliert. Diese sind laut David O. Beale in „In Pursuit of Purity“:
- Verbale und vollständige Inspiration der Bibel in ihren ursprünglichen Handschriften
- Dreieinigkeit
- Erschaffung des Menschen, Sündenfall und völlige Verderbtheit
- Die allgemeine Übertragung des geistlichen Todes Adams
- Die Notwendigkeit der Wiedergeburt
- Erlösung durch das Blut Christi
- Rettung durch den Glauben an Jesus Christus
- Glaubensgewissheit
- Jesus Christus als Mittelpunkt der Schriften
- Die wahre Kirche besteht aus echten Gläubigen
- Personenhaftigkeit des Heiligen Geistes
- Aufruf der Gläubigen zu einem heiligen Leben
- Die Seelen der Gläubigen gelangen unmittelbar beim Tod zu Christus
- Das zweite Kommen Jesu vor dem Tausendjährigen Reich
Wenn diese Punkte über weitere Diskussionen erhaben sein sollen, bedeutet das, dass sie dogmatischen Charakter haben. Diese Vorgangsweise ist in sich noch nicht verwerflich. Wenn man meint, dass das Anerkennen gewisser Dogmen Fundamentalismus bedeutet, muss man alle großen Konfessionen als fundamentalistisch bezeichnen, da sie — ob sie es so nennen oder nicht — Dogmen verkünden und glauben. Jedoch nicht die Tatsache, dass jemand Glaubensgrundsätze formuliert, ist das Problem, sondern deren Inhalte. Auch müssen wir uns immer bewusst machen, dass alle später formulierten Glaubensbekenntnisse und ‑grundsätze und alle sonstigen Formen der Lehrverkündigung bestenfalls Interpretationen der Bibel sind und deshalb niemals denselben normativen Charakter haben können wie der Ursprung.
Der erste der vierzehn Punkte, die Verbalinspiration, beinhaltet die Auffassung, dass Gott die Schreiber der Bibel so inspiriert habe, dass diese frei von Irrtümern sei. Hieraus wird verständlich, warum die Vertreter dieser Ansicht eher bereit sind, Widersprüche und Ungenauigkeiten in der Schrift als Fehler zu bezeichnen.
Wörtliches Verständnis
Oft wird Verbalinspiration mit einem wörtlichen Verständnis der Bibel verbunden, doch ist das nicht ein und dasselbe. Wenn ein Lehrer den Schülern einen Text diktiert, ist damit noch nicht festgelegt, ob es sich um einen Tatsachenbericht oder eine Sage handelt. Genauso verhält es sich auch mit den biblischen Texten. Gleichnisse, Lehrerzählungen und Lieder könnten auf gleiche Weise verbal inspiriert sein wie Tatsachenberichte.
Versucht man, die ganze Bibel wörtlich zu nehmen, ist man mit vielen verschiedenen Problemen konfrontiert, die sich sofort auflösen, wenn man ein bildlich-literarisches Verständnis nicht ausschließt. Wenige Beispiele sollen genügen.
König Nebukadnezar befiehlt in seinem Zorn über die drei Freunde Daniels, den Ofen siebenmal heißer zu heizen als üblich (Daniel 3,19). Man könnte nun berechtigterweise fragen, welcher Brennstoff und welches Gebläse denn zur Verfügung standen, um dies zu erreichen oder woraus der Ofen wohl gebaut war, der das noch aushielt oder einfach, ob damals überhaupt eine Temperaturskala und Messinstrumente existierten, mit denen man die Einhaltung des Befehls hätte überprüfen können. Wenn wir dagegen anerkennen, dass Zahlen in der Bibel (und auch anderswo) oft in einem symbolischen oder bildlichen Sinne verwendet werden, haben wir keine Schwierigkeit, die Absicht des Schreibers zu erkennen, nämlich die Empörung des Königs auch mit dieser Anweisung darzustellen.
Das Buch Jesaja beschreibt im Kapitel 40 einmal mehr die unvergleichliche Größe Gottes:
Wer hat das Wasser gemessen mit seiner hohlen Hand und den Himmel abgemessen mit der Spanne? Und wer hat den Staub der Erde mit einem Maß erfasst und die Berge mit der Waage gewogen, die Hügel mit Waagschalen? (Jesaja 40,12)
Dachte denn der Prophet im Ernst, Gott hätte Finger und Hände oder benutze Hilfsinstrumente wie Waagen und Schalen? Wir können diese Frage getrost mit „Nein“ beantworten. Gott in menschlicher Weise darzustellen ist ein Stilmittel, welches uns in den biblischen Büchern sehr oft begegnet. Man nennt das Anthropomorphismus. Die Autoren mussten Missverständnisse bei den Lesern nicht befürchten, denn es war den Israeliten klar, dass Gott allgegenwärtiger und allmächtiger Geist ist. So konnten sie in sehr anschaulicher Weise wichtige geistliche Inhalte vermitteln.
Ein wortwörtliches Verständnis wirft aber nicht nur Probleme auf, über die man schmunzeln könnte. Es ergeben sich auch theologische Widersprüche. So heißt es etwa in Genesis, dass Gott am siebenten Tag ruhte.
Und Gott hatte am siebenten Tag sein Werk vollendet, das er gemacht hatte; und er ruhte am siebenten Tag von all seinem Werk. Und Gott segnete den siebenten Tag und heiligte ihn; denn an demselben ruhte er von all seinem Werk, das Gott geschaffen hatte, indem er es machte. (Genesis 2,2–3)
Aber wie kann Gott ruhen? Dieses Ruhen am siebten Tag hieße doch, dass Gott von der Zeit abhängig und ihr damit unterworfen wäre. Damit wäre er aber nicht mehr der Allerhöchste, die Zeit stünde über Ihm! Wir können aber ganz sicher davon ausgehen, dass der Autor glaubte und wusste, dass Gott der Allerhöchste ist. Er wollte seine Leser auch nicht glauben machen, Gott habe am achten Tag die Schöpfungstätigkeit fortgesetzt und am 14. Tag wiederum geruht. Bei einem Tatsachenbericht wären solche Mutmaßungen völlig verständlich, bei einem in sich abgeschlossenen Bild dagegen nicht. Die Absicht des Autors lag offensichtlich u. a. darin, die Sieben-Tage-Woche als Einrichtung Gottes zu bezeugen und vor allem den Sabbat zu begründen. Wir können bei literarischer Betrachtungsweise einige weitere Details entdecken, die uns zeigen, dass der Autor seinen eigenen Text nicht als Tatsachenbericht und demzufolge auch nicht wörtlich verstanden hat. (Siehe: Sind die Schöpfungsgeschichten Tatsachenberichte?) Auch Jesus hat diesen Text nicht auf diese Weise wörtlich verstanden, wenn er an einem Sabbat sagt:
Mein Vater wirkt bis jetzt und ich wirke. (Johannes 5,17)
und damit das ununterbrochene Handeln und Heilshandeln Gottes dem formalistischen Sabbatverständnis seiner Gegner gegenüberstellt.
Im ersten Buch der Könige kündigt der Prophet Micha ben Jimla dem König Ahab den Tod in der Schlacht an. Unter anderem sagt er ihm folgendes:
Und Micha sprach: Darum höre das Wort des HERRN! Ich sah den HERRN auf seinem Thron sitzen, und das ganze Heer des Himmels stand um ihn, zu seiner Rechten und zu seiner Linken. Und der HERR sprach: Wer will Ahab betören, dass er hinaufzieht und bei Ramot in Gilead fällt? Und der eine sagte dies, und der andere sagte das. Da trat der Geist hervor und stellte sich vor den HERRN und sagte: Ich will ihn betören. Und der HERR sprach zu ihm: Womit? Da sagte er: Ich will ausgehen und will ein Lügengeist sein im Mund aller seiner Propheten. Und er sprach: Du sollst ihn betören und wirst es auch können. Geh aus und mache es so! (1 Könige 22,19–22)
Hat Micha tatsächlich gesehen und gehört, was er da sagt? Können wir annehmen, dass Gott unter dem Heer des Himmels einen Wettbewerb um die besten Ideen initiiert? Muss der Allwissende den Geist nach den Details seines Planes fragen? Und vor allem: Trachtet Gott danach, Menschen ins Unglück zu stürzen? Sagt er doch so klar:
Sollte ich wirklich Gefallen haben am Tod des Gottlosen, spricht der Herr, HERR, nicht vielmehr daran, dass er von seinen Wegen umkehrt und lebt? (Ezechiel 18,23)
Fragen wir nun nach dem Sinn von Michas „Vision“, so wird deutlich: Er wollte den König warnen, damit dieser von seinen Kriegsplänen ablässt und erkennt, dass all seine „Propheten“ Lügner sind, die nur sagen, was ihr Arbeitgeber ihrer Meinung nach hören möchte. Dafür nutzte er auch das Mittel einer Lehrgeschichte. Wir sind überzeugt, dass diese wie auch seine übrigen Gedanken von Gott inspiriert waren, jedoch nicht in dem Sinne, dass Gott ihn eine himmlische Ratsversammlung schauen ließ und er deren Ergebnis an seine Hörer weitergab.
Das Beispiel zeigt gut, dass wir stets darauf achten sollen, worum es im Text geht, damit wir keine voreiligen und falschen Schlüsse ziehen, insbesondere, wenn es um Gottes Wesen geht. Die Erkenntnis, dass Gott absolut gerecht sowie allmächtig, allwissend, allgegenwärtig ist, dass also weder Vergangenheit noch Zukunft noch irgend etwas anderes vor ihm verborgen ist, müssen wir bei allen Schreibern der Bibel voraussetzen. So sagt der Psalmist:
Nicht verborgen war mein Gebein vor dir, als ich gemacht wurde im Verborgenen, gewoben in den Tiefen der Erde. Meine Urform sahen deine Augen. Und in dein Buch waren sie alle eingeschrieben, die Tage, die gebildet wurden, als noch keiner von ihnen da war. (Psalm 139,15f)
Wenn es nun in Genesis 6 am Anfang der Sintfluterzählung heißt:
Und es reute den HERRN, dass er den Menschen auf der Erde gemacht hatte, und es bekümmerte ihn in sein Herz hinein. (Genesis 6,6)
bedeutet das keineswegs, dass Gott von der Bosheit der Menschen überrascht war, er also davon vorher nichts gewusst hätte. Vielmehr handelt es sich hierbei wieder um einen Anthropomorphismus, mit dem der Schreiber das Missfallen Gottes an der Entwicklung der Menschheit ausdrückt. Gott ist nicht einverstanden mit dem fortschreitenden Sündigen der Menschen, er erwartet etwas ganz anderes! Nicht die Reue Gottes ist das Thema, sondern dass er vom Menschen das Tun des Guten fordert. Er, der Gute, hat uns dazu auch die Fähigkeit verliehen. Handeln wir böse und egoistisch, werden wir ebenfalls gerichtet, wie uns die Geschichte von der Sintflut vor Augen führen will. Dies ist nur einer von zahlreichen anderen Belegen, dass die Lehre von der Prädestination (siehe unser Thema über Vorherbestimmung (Prädestination)) unbiblisch ist, die aber von nicht wenigen Vertretern der Verbalinspiration gelehrt wird.
Verbalinspiration
Wie schon erwähnt, versteht man unter „Verbalinspiration“, dass Gott selbst der Autor der Bibel sei und als Urheber der Inspiration hinter jedem einzelnen Wort im Urtext der Bibel stehe. Zwar bestreiten Vertreter dieser Ansicht, dass die Schreiber bloße Empfänger eines Diktats waren. Es wird aber nicht erklärt, sie man sich deren echten eigenen Anteil am Inhalt des Geschriebenen vorstellen soll. Die Bibel jedenfalls sei irrtumslos, nicht nur bezüglich der Heilsaussagen, sondern auch in allen anderen Aspekten. Daraus ergeben sich folgende Fragen:
a) Welcher Text ist der ursprüngliche?
Wenn für Gott jedes einzelne Wort so wichtig ist, dass er es selbst eingibt, sollten wir annehmen, dass er in seiner Allmacht auch dafür sorgt, dass genau dieser Text zu allen Zeiten zur Verfügung steht oder jedenfalls genau erhalten bleibt. Nun gibt es aber von allen biblischen Büchern zahlreiche Textvarianten. Die allermeisten dieser Unstimmigkeiten sind inhaltlich völlig belanglos, einige aber zwingen uns zu überlegen und zu entscheiden, welcher Text ursprünglich ist. Fundamentalisten versuchen das Problem zu lösen, indem sie den Mehrheitstext1 bevorzugen, und behaupten, dies sei der beste Text.
Nun wurden aber die Schriften des Neuen Testaments geschrieben, an verschiedensten Orten kopiert und verbreitet lange bevor zentrale „Standardisierungskommissionen“ des Staates oder der mächtig gewordenen „Kirche“ hätten Einfluss nehmen können. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass wir Handschriften aus verschiedenen Zeiten an vielen Orten finden. Darin erkennen wir, dass den Schreibern manchmal Fehler unterliefen oder auch Korrekturen von ihnen vorgenommen wurden. Aber war Gott zu schwach, um dafür zu sorgen, dass Sein Wort über alle Zeiten absolut unverändert blieb? Aufgrund des heute wissenschaftlich ausgewerteten Textbefundes kann man zwar oft ziemlich sicher sagen, wie der ursprüngliche Text lautet, doch handelt es sich dabei eben um Abwägungen. Außerdem gibt es immer noch eine Reihe von Fragen, die vielleicht erst durch weitere Entdeckungen besser gelöst werden können. Wir sind jedoch überzeugt, dass Gott sein Wort wunderbar bewahrt hat. Wenn wir auf die Inhalte der Schriften schauen, können wir nur staunen, wie gewissenhaft diese weitergegeben wurden. Liegen aber unterschiedliche Varianten des gleichen Textes vor, ist es vom paläografischen2 Standpunkt her grundsätzlich geboten, den älteren und kürzeren Lesarten den Vorzug zu geben. Ein Beispiel soll dies verdeutlichen.
Im 1. Johannesbrief finden wir in jüngeren Handschriften und eben auch im sogenannten Textus Receptus3 eine Stelle, die auch als Comma Johanneum bezeichnet wird.
Er ist es, der durch Wasser und Blut gekommen ist, Jesus der Christus; nicht durch Wasser allein, sondern durch Wasser und Blut. Und der Geist ist es, der Zeugnis gibt, weil der Geist die Wahrheit ist. Denn drei sind es, die Zeugnis ablegen im Himmel: der Vater, das Wort und der Heilige Geist, und diese drei sind eins; und drei sind es, die Zeugnis ablegen auf der Erde: der Geist und das Wasser und das Blut, und die drei stimmen überein. (1 Johannes 5,6–8 aus Schlachter 2000)
Der unterstrichene Teil der Verse fehlt in nahezu allen griechischen Handschriften. Die allermeisten Abschreiber haben generell nicht gewagt, den Text zu verändern. Absichtliche Auslassungen sind daher eher unwahrscheinlich. Zufügungen treten manchmal auf, vor allem dort, wo etwa eine Aussage Jesu in einem Evangelium an eine parallele, aber doch längere Aussage in einem anderen Evangelium angeglichen wurde. Bei vielen Handschriften treten jedoch Randglossen auf, die später mitunter mit oder ohne Absicht in den Text eingefügt wurden. Es ist daher wahrscheinlich, dass jemand im Laufe des Überlieferungsprozesses die im obigen Zitat unterstrichene Aussage für geeignet hielt, sie als wörtlichen Beleg für die Dreieinheit einzufügen, obwohl das Neue Testament diese Lehre ohnehin klar genug bezeugt. Dagegen muss man es als unmöglich betrachten, dass diese Aussage tatsächlich von Johannes stammt, ein oder mehrere Abschreiber sie aber ausließen. Wir betrachten es als Zeichen von Gottes Wachsamkeit über den Text, dass solche Zufügungen nicht unerkannt bleiben. Davon findet man im Mehrheitstext noch weitere Beispiele. Es entspricht daher nicht den Tatsachen, dass er dem Urtext am nächsten komme.
b) Worin besteht der Anteil der Schreiber?
Wir sind aber vor allem deshalb davon überzeugt, dass die Verbalinspiration abzulehnen ist, weil bei dieser Ansicht ein äußerst wichtiger Umstand in dem Verhältnis zwischen Gott und Mensch ignoriert wird: Der Anteil des Menschen am Entstehen der Heiligen Schrift wird auf das bloße Schreiben reduziert. Der Mensch, das Ebenbild Gottes, mit freiem Willen und Entscheidungshoheit ausgerüstet – ein willenloser Schreibgehilfe? Zeigen denn nicht z. B. die Psalmen und die Prophetenbücher überdeutlich, wie stark auch die Kommunikation des Menschen mit Gott ist? Worte der Sehnsucht und der Angst, der Trauer und der Freude, auch Gebete der Gläubigen formen einen Großteil der Heiligen Schriften. Die Bibel ist damit das größte Zeugnis von der Beziehung zwischen Mensch und Gott. Die Annahme, Gott hätte Davids Bußpsalmen (z. B. Psalm 51), Jeremias Worte über seine inneren Kämpfe (Jeremia 20,7–9 und 14–18) oder die strengen und „in Torheit“ geschriebenen Ermahnungen des Paulus an die Korinther, Wort für Wort eingegeben, ist daher widersinnig. Dies sind doch deren Worte! Die Realität von Gottes Liebe wird gerade durch den Eifer und die Hingabe der Gläubigen deutlich – und das besonders in Gottes Wort. Gott gab uns die Willensfreiheit, damit wir ihn von ganzem Herzen lieben. Mit diesem freien Willen und dem uns gegebenen Verstand sollen wir Gott erkennen. Wenn wir Ihn erkannt haben – was wir ja insbesondere bei den Autoren der Schriften voraussetzen können — wird dieser Verstand nicht vernachlässigt, sondern kommt erst richtig zur Geltung. Gott schenkt allen Gläubigen – und gab insbesondere den Schreibern der Bibel — geistliche Erkenntnisse und Gedanken, mit denen sie dann verständig und verantwortlich umgehen müssen. Zu diesem verantwortungsvollen Umgang gehört, dass Gott die gestalterische Freiheit des Autors akzeptiert. Das ganze Umfeld, in dem er gelebt hat, seine Kultur, Sprache, Vergangenheit, ja seine ganze Individualität haben beeinflusst, wie er die von Gott gegebenen Gedanken zu Papier gebracht hat, so dass dann der Bibeltext daraus entstanden ist.
c) Gibt es echte Widersprüche in der Bibel?
Hauptsäule des Fundamentalismus ist die völlige Irrtumslosigkeit der Bibel. Daher wenden ihre Verfechter viel Mühe auf, um alle Spannungen und Widersprüche aufzulösen. In schwierigen Fällen wird auch behauptet, dass der Mangel nicht auf Seiten der Bibel, sondern auf der des Interpreten läge.
Wir wollen im Folgenden zeigen, dass dies ein grundsätzlich problematischer Ansatz ist. Es ist nicht das Ziel in unserem Umgang mit der Schrift, Fehler zu suchen. Allerdings wollen wir vor Widersprüchen und Übertreibungen nicht die Augen verschließen. Natürlich hat Gott derartiges nicht gewollt, aber er hat es zugelassen und in Kauf genommen. Es ist ein Gebot der Ehrlichkeit, real widersprüchliche Inhalte nicht einfach zu ignorieren oder mit Scheinargumenten wegzuerklären. Gott will, dass wir mit reinem Herzen und klarem Verstand den Sinn seiner Offenbarung erkennen, d. h. das Wesentliche erkennen. Ungereimtheiten und Fehler sind natürlich auf die Schreiber zurück zu führen, die sich selbst bestimmt nicht als unfehlbar betrachtet hätten. Erkennt man das an, verliert nicht die Bibel ihre Autorität, wohl aber das Konzept der Verbalinspiration seine Glaubwürdigkeit.
Widersprüche in der Schrift
Da es in der Bibel eine Reihe von Parallelüberlieferungen gibt, ist es möglich, in solchen Büchern scheinbare oder auch wirkliche Widersprüche, z. B. über geschichtliche Begebenheiten, zu rechnen. So wird der Tod des Königs Ahasja in 2 Könige 9 und 2 Chronik 22 unterschiedlich geschildert.
Als Ahasja, der König von Juda, das sah, floh er in Richtung Bet-Gan. Jehu aber jagte ihm nach und sagte: Auch ihn! Und man verwundete ihn auf dem Wagen beim Anstieg von Gur, das bei Jibleam liegt. Und er floh nach Megiddo und starb dort. (2 Könige 9,27)
Und es geschah, als Jehu an dem Haus Ahabs Gericht übte, da traf er die Obersten von Juda und die Söhne der Brüder Ahasjas, die im Dienst Ahasjas standen; und er brachte sie um. Und er suchte Ahasja, und man nahm ihn gefangen, als er sich in Samaria versteckt hielt; und sie brachten ihn zu Jehu und töteten ihn. Und sie begruben ihn, denn sie sagten: Er ist ein Sohn Joschafats, der den HERRN mit seinem ganzen Herzen gesucht hat. Und das Haus Ahasjas hatte niemand mehr, der zum Königtum fähig gewesen wäre. (2 Chronik 22,8–9)
In letztgenannter Stelle wird also berichtet, dass er von Jehu in Samaria gefangen genommen und hingerichtet wurde, 2 Könige 9,27 hingegen sagt, dass er auf der Flucht tödlich verletzt wurde und dann in Megiddo starb. Es hat nichts mit dem Überheben des Menschen über Gottes Wort zu tun, wenn wir behaupten, es könne nur so oder so gewesen sein. Wenn wir annehmen, dass die beiden Schreiber unterschiedliche Informationsquellen zur Verfügung hatten, können wir zwar nicht den Widerspruch auflösen, wohl aber erklären, wie er zustande kam. Es ist üblich, dass geschichtliche Ereignisse erst durch Augen– und Ohrenzeugen weitergegeben werden, bevor sie von Schreibern schriftlich fixiert werden. Es ist auch nicht ungewöhnlich, dass diese Zeugen manchmal Details verwechseln oder gar vergessen. Nehmen wir also an, dass Gott Geschichte schreibt, indem er das Berichten den Menschen überlässt, die an ihn glauben und sein Wirken in der Geschichte sehen, müssen wir uns über solche Ungenauigkeiten nicht wundern. Im Gegenteil: solche Stellen können uns helfen zu verstehen, wie die Texte der Bibel entstanden.
Neben den Unterschieden, die nur aufgrund unterschiedlicher Quellen zustande kamen, finden sich auch solche, bei denen wir bestimmte Absichten der Schreiber erkennen können.
Ein einfaches Beispiel liegt im Stammbaum Jesu nach Matthäus vor. In seiner Absicht, die Zeit von Abraham bis Jesus mit drei Perioden zu je 14 Generationen zu füllen, entschied er sich, einige Vorfahren Jesu auszulassen bzw. einen davon doppelt zu zählen. Wir beschränken uns bei der Wiedergabe auf die für unseren Zweck relevanten Verse:
Buch des Ursprungs Jesu Christi, des Sohnes Davids, des Sohnes Abrahams. Abraham zeugte Isaak, Isaak aber zeugte Jakob […] Isai aber zeugte David, den König, David aber zeugte Salomo […] Joschafat aber zeugte Joram, Joram aber zeugte Usija, Usija aber zeugte Jotam, Jotam aber zeugte Ahas, […] Josia aber zeugte Jojachin und seine Brüder um die Zeit der Wegführung nach Babylon. Nach der Wegführung nach Babylon aber zeugte Jojachin Schealtiël, […] Jakob aber zeugte Josef, den Mann Marias, von welcher Jesus geboren wurde, der Christus genannt wird. So sind nun alle Geschlechter von Abraham bis auf David vierzehn Geschlechter und von David bis zur Wegführung nach Babylon vierzehn Geschlechter und von der Wegführung nach Babylon bis auf den Christus vierzehn Geschlechter. (Matthäus 1,1–17)
Es entspricht nicht den Tatsachen – und Matthäus wusste dies –, dass Joram Usija zeugte. Sowohl das Buch der Könige als auch die Chronik zeigen, dass König Joram, der Sohn Joschafats, nicht der Vater Usijas war, sondern dessen Ururgroßvater. Joram regierte von 848 – 841 v. Chr., es folgten ihm nacheinander sein Sohn Ahasija, sein Enkel Joasch und sein Urenkel Amazja auf dem Thron, ehe sein Ururenkel Usija um 792 als Mitregent den Königsthron bestieg. Warum Matthäus gerade jene drei Könige ausließ, wollen wir hier nicht erörtern. Nur soviel: Hätte er die besonders negativen Könige ausklammern wollen, hätten ihm in Rehabeam, Ahas und Manasse drei besonders geeignete Kandidaten zur Verfügung gestanden. Sein Fokus lag aber nicht darauf, sondern auf 14 Generationen. Dies führt ihn auch dazu, Jojachin sowohl als letzten der zweiten als auch als ersten der dritten Periode zu zählen. Warum ihm die Zahl 14 so wichtig war, ist vermutlich darauf zurückzuführen, dass ein jüdischer Leser in den drei hebräischen Buchstaben des Namens David (DWD = 4+6+4) den Zahlenwert 14 sah.4
Unabhängig davon, ob diese Interpretation zutrifft oder nicht, können wir doch sehr deutlich den menschlichen Anteil an diesem Abschnitt der Schrift erkennen.
Aufgrund der Ähnlichkeit der drei synoptischen Evangelien fallen Unterschiede besonders leicht auf. Oft sind diese nicht widersprüchlich. In einigen Fällen aber, vor allem wenn es sich zweifelsfrei um die gleiche Situation handelt, kommen wir nicht umhin, eine Variante als ungenau zu bezeichnen. Ein solches Beispiel liegt bei der Auferweckung der Tochter des Jairus vor.
Markus beschreibt diese Begebenheit sehr detailliert (Markus 5,21–43). Jairus drängt Jesus zu kommen, seine Tochter zu heilen, da diese im Sterben liegt und daher Eile geboten ist. Als Jesus durch die am Blutfluss leidende Frau aufgehalten wird, verstirbt die Tochter unterdessen. Boten sagen dies an und meinen, Jesus bräuchte nicht mehr zu kommen.
Die gleiche Situation wird von Matthäus wesentlich kürzer geschildert (Matthäus 9,18–26). Viele Details entfallen bei ihm. Dass Jairus Jesus jedoch um Auferweckung seiner eben verstorbenen Tochter bittet, steht im klaren Widerspruch zum Markustext. Mehr noch, gerade der spannende Punkt in der genauen Darstellung des Markus entfällt, denn eine Totenauferweckung hatten weder Jairus noch andere Beteiligte für möglich gehalten. Ob nun Matthäus die Geschichte aus eigenem Ermessen kürzte oder seine Quelle anders lautete als die des Markus, können und wollen wir hier nicht entscheiden. In jedem Falle handelt es sich um einen nicht harmonisierbaren Unterschied, der auf menschlichen Einfluss auf die Schrift zurückzuführen ist.
Ein weiteres Beispiel: Die drei synoptischen Evangelien enthalten im Gegensatz zum Johannesevangelium wenige Angaben über Zeitpunkte und Orte der berichteten Geschehnisse um Jesus. Markus, welcher sein Evangelium sehr wahrscheinlich als erster schrieb, erzählt das Wirken Jesu in einem sehr einfachen Rahmen. Nach ihm scheint es, dass sich Jesus die längste Zeit in Galiläa und dessen Umgebung aufhielt und nur kurz vor seinem Tod nach Jerusalem kam. Obwohl wir nicht behaupten wollen, dass es eine direkte literarische Abhängigkeit unter den Synoptikern gäbe, können wir dennoch sagen, dass Matthäus und Lukas Markus darin folgten.
Die Tendenz zur Vereinfachung führt unter anderem dazu, dass man gemäß Markus und Matthäus denken muss, Jesus hätte erst nach der Verhaftung Johannes des Täufers mit seinem öffentlichen Wirken in Galiläa begonnen.
Und nachdem Johannes überliefert war, kam Jesus nach Galiläa und predigte das Evangelium Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt, und das Reich Gottes ist nahe gekommen. Tut Buße und glaubt an das Evangelium! (Markus 1,14f)
Aus dem Johannesevangelium erfahren wir aber, dass der Täufer erst nach dem ersten Auftreten Jesu in Galiläa und dessen ersten Jerusalembesuch ins Gefängnis kam. Der Evangelist weist darauf sogar ausdrücklich hin:
Danach kamen Jesus und seine Jünger in das Land Judäa, und dort verweilte er mit ihnen und taufte. Aber auch Johannes taufte zu Änon, nahe bei Salim, weil dort viel Wasser war; und sie kamen hin und wurden getauft. Denn Johannes war noch nicht ins Gefängnis geworfen. (Johannes 3,22–24)
Der letzte Satz hat eindeutig Korrekturcharakter. Nirgendwo im Johannesevangelium erfahren wir von dem Konflikt zwischen Herodes Antipas und Johannes dem Täufer, dessen Inhaftierung und Ermordung. Johannes setzt vielmehr voraus, dass seine Leser dies alles aus anderen Evangelien wissen. Als einzig sinnvolle Erklärung für Vers 24 verbleibt, dass der Evangelist die ungenaue Angabe aus Matthäus und Markus richtigstellt, ohne damit sagen zu wollen, diese hätten es nicht besser gewusst. Der Apostel Johannes baute sein Evangelium ganz anders auf. Seine chronologischen und topographischen Angaben ermöglichen einen wesentlich besseren Einblick in den äußeren Ablauf des Wirkens Jesu. So hat er seine Leser auch wissen lassen, dass manche Details in den bereits vorliegenden Evangelien nicht in der tatsächlichen zeitlichen Reihenfolge berichtet werden.
Ein weiteres Beispiel ist der Zeitpunkt der Kreuzigung. Markus schreibt, dass diese in der dritten Stunde durchgeführt wurde, d. h. also zwischen 8 und 9 Uhr.
Es war aber die dritte Stunde, und sie kreuzigten ihn. (Markus 15,25)
Johannes aber, der mehr als ein Drittel seines Evangeliums den Ereignissen vom Vorabend der Kreuzigung bis hin zur Auferstehung widmet und dessen Schilderung des Prozesses vor Pilatus viel genauer ist als bei den Synoptikern, sagt, dass das Urteil über Jesus erst um die Mittagszeit erging.
Als nun Pilatus diese Worte hörte, führte er Jesus hinaus und setzte sich auf den Richterstuhl an einen Ort, genannt Steinpflaster, auf Hebräisch aber Gabbata. Es war aber Rüsttag des Passah; es war um die sechste Stunde. Und er spricht zu den Juden: Siehe, euer König! Sie aber schrien: Weg, weg! Kreuzige ihn! Pilatus spricht zu ihnen: Euren König soll ich kreuzigen? Die Hohenpriester antworteten: Wir haben keinen König außer dem Kaiser. Dann nun lieferte er ihn an sie aus, dass er gekreuzigt würde. Sie aber nahmen Jesus hin und führten ihn fort. (Johannes 19,13–16)
Mitunter wird angenommen, dass Markus „die sechste Stunde“ schrieb, aber aufgrund eines Abschreibfehlers daraus „die dritte Stunde“ wurde. Dies ist aber unwahrscheinlich, da den Synoptikern zufolge Jesus schon eine Zeitlang am Kreuz litt, bevor von der sechsten bis zur neunten Stunde eine Finsternis über das Land hereinbrach. Eher müssen wir annehmen, dass die Zeitangaben meist grob vorgenommen wurden und Markus das einfache Muster dritte, sechste, neunte Stunde anwandte. Die Fülle der Ereignisse an jenem Tag legt zumindest nahe, dass die zeitliche Einordnung von Johannes für das letztendliche Nachgeben des Pilatus realistisch ist.
Obwohl diese Unterschiede nebensächlich sind und in keiner Weise die Historizität Jesu oder die Glaubwürdigkeit der Evangelien erschüttern, wird doch deutlich, dass das Prädikat „absolut fehlerfrei“ nicht vergeben werden kann. Dafür ließen sich noch wesentlich mehr Beispiele anführen. Diese kleine Auswahl von fehlerhaften oder missverständlichen Angaben jedoch soll genügen, die Unhaltbarkeit des fundamentalistischen Inspirationsverständisses zu zeigen.
Der Kreationismus
Es gibt eine Literaturgattung, die wir in der Bibel nicht finden: das Sachbuch. Dieses wurde erst vor etwa 300 Jahren eingeführt. Wissenschaftliche Werke aus früherer Zeit haben immer auch literarischen, philosophischen oder religiösen Charakter. Natürlich haben auch die Israeliten und somit auch die biblischen Schreiber ihre damals üblichen Beobachtungen der Natur aufgeschrieben. Wir sollen aber nicht annehmen, dass sie dies auch nur halbwegs vollständig oder gar systematisch taten. Auch qualitatives und quantitatives Erfassen und Beschreiben von Naturphänomenen finden wir nicht. Schon alleine daraus können wir erkennen, dass sie gar nicht als Naturwissenschaft in unserem Sinn gedacht sind. Man könnte sie allenfalls als vorwissenschaftliche Beobachtungen bezeichnen.
Die moderne Naturwissenschaft entwickelte sich erst im Zuge der Aufklärung. Leider begründen seither nicht wenige Menschen ihre atheistische Lebensauffassung mit den Ergebnissen der Forschung, obwohl hinlänglich bekannt sein dürfte, dass viele Naturforscher Theisten waren und sind. Wenn wir uns die Aufgaben und Grenzen der Naturwissenschaften vor Augen halten, werden wir leicht erkennen, dass diese weder Gott noch die Botschaft der Bibel widerlegt haben. Der heute so oft diskutierte Widerspruch zwischen Wissenschaft und Glaube existiert in Wahrheit nicht. Deshalb ist auch die Gegenüberstellung „Schöpfung oder Evolution“ Ergebnis von unsachgemäßer Anwendung sowohl der Bibel als auch der Forschung. Kein ernsthafter Forscher wird jemals mit wissenschaftlichen Mitteln zu beweisen suchen, dass das Universum und das Leben ohne Gott aus rein natürlichen Ursachen zufällig entstand. Die Frage nach dem Grund der Existenz ist keine naturwissenschaftliche, sondern eine philosophische. Wenn wir ganz akzeptieren, dass Gott uns mit der Bibel keine theoretischen Kenntnisse über die Natur vermitteln will, sondern sein Wesen und seinen Plan für uns offenbart, öffnet uns das auch die Augen für die wesentlichen Inhalte. „Christen“ aber, die das Alter der Erde oder gar den ersten Schöpfungstag aus der Bibel „berechnen“, stellen sich damit auf die gleiche Stufe wie „Forscher“, die anhand ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit meinen zu wissen, dass Gott nicht existiere.
Wir alle können im Alltag leicht unterscheiden, was buchstäblich zu verstehen ist und was nicht. Auch den alten Hebräern müssen wir diese Fähigkeit zugestehen. Sie wussten, dass der Regen aus den Wolken kommt. Wenn es in der Sintfluterzählung heißt, dass die Fenster des Himmels sich öffneten, haben wir keinen Grund anzunehmen, dass dies wörtlich gemeint und verstanden wurde.
Wir finden viele Ausdrücke, die einen anschaulichen Charakter zu haben scheinen, tatsächlich aber eher funktional gemeint sind.
So spricht der HERR: Der Himmel ist mein Thron und die Erde der Schemel meiner Füße. Wo wäre denn das Haus, das ihr mir bauen könntet, und wo denn der Ort meines Ruhesitzes? (Jesaja 66,1)
Wir sollen nicht meinen, die Israeliten hätten die primitive Vorstellung gehabt, dass Gott auf einem Thron im Himmel säße und seine Füße auf der Erde abstellte. Vielmehr geht es um Gottes Größe und darum, dass die Erde, die uns so groß erscheint, für ihn nur wie ein Fußschemel ist. Das Ziel der Autoren ist die Verherrlichung Gottes und die Ermunterung zum Glauben an ihn. Wenn wir die Bibel also ernst nehmen wollen, müssen wir uns gut überlegen, wie wir zum richtigen Verständnis der Texte kommen. Beim ersten Lesen einer Stelle geht jeder mit einem bestimmten Grundverständnis heran: einer mit einem eher wörtlichen, ein anderer mit einem eher literarischen. Das ist ganz natürlich. Doch dürfen wir uns nicht im Voraus darauf festlegen, sondern sollen prüfen, ob unser anfängliches Verständnis dem Text entspricht. An vielen Stellen der Bibel können wir Sätze wie die folgenden lesen:
In Ewigkeit, HERR, steht dein Wort fest im Himmel. Von Generation zu Generation währt deine Treue. Du hast die Erde gegründet, und sie steht. (Psalm 119,89–90)
Er hat die Erde gegründet auf ihre Grundfesten. Sie wird nicht wanken immer und ewig. (Psalm 104,5)
Wollte Gott uns durch die Psalmisten mitteilen, wie die Erde aufgebaut ist? Ging es ihnen nicht vielmehr um das Lob der Weisheit und Unerschütterlichkeit Gottes? Er hatte nicht die Absicht, den Schreibern Wissen über die Natur zu offenbaren (oder, genauer gesagt, überzustülpen), nur um damit den Vorstellungen und dem Wissensstand der Menschen der Neuzeit entgegenzukommen. Zu sagen, dass die Erde auf Säulen steht, war weder ein Erfahrungswert noch Dogma. Niemand hatte diese Säulen jemals gesehen, und niemand behauptete als wissenschaftliche Hypothese deren Existenz. Aber wie ein gut gegründetes Haus steht die Erde fest und ist daher gut geeignet, um darauf zu wohnen. Die Folgen des fundamentalistischen Verständnisses solcher Verse sind hinlänglich bekannt. Naturforscher wie Galileo Galilei wurden gezwungen, ihre gewonnenen Erkenntnisse zu verschweigen oder zu verleugnen. Den „Verteidigern“ der Bibel ging es dabei nicht um Gottes Ehre. Hätten sie diese gesucht und Gottes Wort verstehen wollen, hätten sie zu allererst ihre eigene unbiblische Institution beseitigt samt aller Heuchelei und Gottlosigkeit, die von ihren Führern ausging.
Der Himmel erzählt die Herrlichkeit Gottes, und das Himmelsgewölbe verkündet seiner Hände Werk. Ein Tag sprudelt dem anderen Kunde zu, und eine Nacht meldet der anderen Kenntnis — ohne Rede und ohne Worte, mit unhörbarer Stimme. Ihre Messschnur geht aus über die ganze Erde und bis an das Ende der Welt ihre Sprache. Dort hat er der Sonne ein Zelt gesetzt. Und sie, wie ein Bräutigam aus seinem Gemach tritt sie hervor; sie freut sich wie ein Held, die Bahn zu durchlaufen. Vom Ende des Himmels geht sie aus und läuft um bis an sein Ende; nichts ist vor ihrer Glut verborgen. (Psalm 19,2–8)
Natürlich müssen wir anerkennen, dass die meisten Menschen des Altertums von einer flachen Erde ausgingen und den heliozentrischen Aufbau unseres Planetensystems nicht kannten. Man kann ihnen nicht vorwerfen, dass sie keine Vorstellung von einer Erde hatten, die als Kugel im luftleeren Raum im Abstand von ca. 150 Millionen km mit einer Geschwindigkeit von ca. 107.000 km/h um die Sonne kreist und noch dazu mit rund 1.600 km/h (am Äquator) um die eigene Achse rotiert. Es gab zwar Menschen, die die Kugelform der Erde und sogar ihre ungefähre Größe erkannten. Aber das war Spezialwissen einiger weniger. Wer von uns wäre schon auf diesen Gedanken gekommen? Es ist daher ohne Zweifel richtig, zu sagen, dass viele Bilder und Ausdrücke in der Bibel formal dem heutigen, wissenschaftlich-empirischen Weltbild widersprechen. Wer anderes behauptet, tut dies nicht aufgrund objektiver Betrachtung des Textes, sondern wegen des Dogmas der Unfehlbarkeit der Schrift. Die Ansicht, Gott sei für alle Aussagen, ja alle Wörter verantwortlich, lässt es eben nicht zu, Wesentliches von Unwesentlichem zu trennen. Auch hierbei geht es nicht um Gottes Ehre.
Auch Jesus legte keinen Wert auf wissenschaftlich-korrekte Formulierungen:
Eine Königin des Südens wird auftreten im Gericht mit den Männern dieses Geschlechts und wird sie verdammen; denn sie kam von den Enden der Erde, um die Weisheit Salomos zu hören; und siehe, hier ist mehr als Salomo. (Lukas 11,31)
Sie kam tatsächlich von sehr weit her – nämlich aus Saba, was man üblicherweise mit dem Gebiet des heutigen Jemen gleichsetzt. Wahrscheinlich war damals keine Gegend bekannt, die südlicher lag. Stellt man sich nun die Erde als Globus vor, scheint die Formulierung „die Enden der Erde“ irgendwie fehl am Platz. Aber Jesus wollte gar nicht lehren, dass es Enden der Erde gäbe, oder wo sich diese befänden, oder dass die Erde eine Scheibe mit bestimmten Ausmaßen sei. Er warnte aber seine Zuhörer, nicht im Unglauben zu verharren. Das Weltbild spielt dabei gar keine Rolle. Auch wenn es viele Aussagen gibt, die erkennen lassen, dass man sich die Erde als Scheibe vorstellte, die von den Gestirnen umkreist wird, kann man nicht sagen, dass die Bibel das geozentrische Weltbild lehre. Will man aber von einem Weltbild in ihr sprechen, müsste man dieses „theozentrisch“ nennen. Gott ist Mittelpunkt, er ist Anfang und Ende, ihm verdanken wir alles, und kraft seines Willens erschuf er alles aus dem Nichts. Deshalb gebührt nur ihm die Ehre, deshalb soll unser Leben nur zu seiner Ehre gelebt werden. Das ist die fundamentale Botschaft der Schrift. Und so beginnt sie auch.
Sind die Schöpfungsgeschichten Tatsachenberichte?
Besonderes Augenmerk legen Kreationisten darauf, die ersten elf Kapitel des Buches Genesis in Einklang mit der Naturwissenschaft zu bringen. Gleichwohl gibt es unter ihnen keine Einheit im Detail. Sogenannte Alte-Erde-Kreationisten wollen das von Wissenschaftlern ermittelte Alter der Erde nicht in Frage stellen, während dieses nach Meinung von Junge-Erde-Kreationisten maximal 6.000 bis 10.000 Jahre beträgt. Für viele Fundamentalisten ist es selbstverständlich, die Sechs-Tage-Schöpfung buchstäblich zu verstehen, andere hingegen sagen, die Tage stünden für undefiniert lange Zeiträume. Manche wiederum berufen sich auf einen Vers aus Psalm 90, um für den Schöpfungsakt einen Zeitraum von immerhin 6.000 Jahren zu gewinnen:
Denn tausend Jahre sind in deinen Augen wie der gestrige Tag, wenn er vergangen ist, und wie eine Wache in der Nacht. (Psalm 90,4)
Die Anwendung dieses Verses in dieser Weise offenbart, dass man hernimmt, was man finden kann, aber so am Sinn der Aussage vorbei geht. Der Psalmist will doch zeigen, dass Gott über der Zeit steht, und nicht, dass seine Uhr anders tickt als unsere. Ein Grieche hätte vielleicht von der Zeitlosigkeit bei Gott gesprochen, aber solche abstrakten Begriffe waren den Hebräern fremd.
Wie sollen wir nun die ersten Kapitel der Bibel verstehen? Ihre wörtliche Auslegung führt zu gravierenden Widersprüchen zu allgemein anerkannten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Der Himmel ist kein Gewölbe, das sich über die Erde erstreckt. Wir schauen in den leeren Raum. Die Sonne muss schon vor der Erde existiert haben und kann daher nicht „erst“ am vierten Tag erschaffen worden sein. Das Licht, welches den Tag zum Tag macht, kommt einzig und allein von der Sonne.
Nur wenn wir anerkennen, dass Gott uns geistlich wichtige Botschaften geben und uns nicht über ein „Wie“ oder eine Reihenfolge der Schöpfungsakte informieren will, begreifen wir die Tiefe und Bedeutung der Aussagen.
Gott schafft das Universum aus dem Nichts und bringt mit der Macht Seines Wortes alles in eine wohldurchdachte Ordnung. Alles ist sehr gut und auf die Krone der Schöpfung, den Menschen, hin ausgerichtet. Er selbst aber, Gott, der Allmächtige, ist nicht Teil der Schöpfung, sondern steht in seiner Unendlichkeit über ihr. Diese klaren Aussagen stehen in starkem Kontrast zu allen anderen damals üblichen Vorstellungen von der Entstehung des Kosmos. Ägypter, Sumerer, Babylonier, sie alle hatten gewisse „Erklärungen“ für unsere Existenz. In der Verfinsterung ihres Verstandes aber nahmen sie an, dass unsere Welt Produkt von Kämpfen innerhalb der Götterwelt sei. Wenn man diese absurden Geschichten kennt – und es gibt keinen Zweifel, dass Mose zumindest die ägyptischen Varianten kannte –, kann man schon sehen, dass die biblischen Geschichten fundamentale Korrekturen darstellen. Die literarische Formung von Genesis 1 wurde schon von vielen Menschen erkannt. In den drei ersten Tagen schafft Gott Räume, die in den darauf folgenden Tagen gefüllt werden. Der Mensch überragt als Ebenbild Gottes alle anderen Kreaturen. Auf die Vollendung der Schöpfung folgt die Sabbatruhe Gottes.
Jedermann wusste, dass das Licht, welches wir empfangen, von der Sonne kommt. Deshalb war die Vergötterung der Sonne damals sehr üblich. Auch der Mond und die Gestirne „erfreuten“ sich mannigfaltiger Verehrung, da sie doch so hoch über uns stehen. Sogar das Schicksal des Menschen sah man durch Sternenkonstellationen vorherbestimmt. Wie befreiend und wahr ist angesichts dessen die deutliche Degradierung all der Himmelskörper in Genesis! Sonne und Mond werden am vierten Tag erschaffen – also weder am Anfang noch am Ende — und nicht einmal mit Namen genannt. Sie dienen lediglich als Lichter und Zeitmessinstrumente. Und die Sterne — es scheint, als hätte der Schreiber gerade noch rechtzeitig daran gedacht, sie zu erwähnen.
Für den literarischen Aufbau der Geschichte war es aber notwendig, das Licht an den Anfang zu stellen, denn wie kann man ohne Licht von Tagen sprechen? Daher heißt es auch:
Und Gott nannte das Licht Tag, und die Finsternis nannte er Nacht. Und es wurde Abend, und es wurde Morgen: ein Tag. (Genesis 1,5)
Damit scheitern alle vorher genannten Versuche, die Zeiträume zu verlängern. Es ist tatsächlich eine Woche gemeint. Das Licht nun ist in sich etwas sehr Wundervolles. Es macht das Dasein erst wirklich möglich und verdient daher den ersten Rang in der Schöpfung. Nur dadurch können wir sehen und überhaupt unserer Bestimmung entsprechend leben, denn wir erkennen alles. Das macht verständlich, warum es an anderen Stellen der Bibel bildlich für Gottes Gegenwart oder die Wahrheit verwendet wird. Hier allerdings stellen auch Finsternis und Nacht nichts Negatives dar. Wer erklärt, Gott selbst sei das Licht vor Erschaffung der Sonne gewesen, übersieht, dass das Licht hier kein Sinnbild, sondern ein Werk Gottes ist.
Die Trennung der Entstehung des Lichtes von der Erschaffung der Sonne ist ein deutliches Indiz für den nichtwissenschaftlichen Charakter der Schöpfungsgeschichten. Man kann jedoch auch ohne diesem erkennen, dass dem Autor solche Art von Botschaft fremd war. Wir erwähnten schon oben, dass die Ruhe Gottes am siebten Tag nicht buchstäblich zu verstehen ist, da es sonst zu unhaltbaren Annahmen über Gottes Wesen kommt. Der Sabbat war ein wichtiges Bundeszeichen zwischen Gott und seinem Volk, und nicht selten zeigte sich der Ungehorsam Israels im Nichtbeachten des Ruhetages. Er ist aber nicht nur in sozialer Hinsicht eine überaus wichtige und weise Einrichtung Gottes. Er zeigt uns Menschen auch das Ziel des Lebens. Nicht für Arbeit, Gewinn und hohen Lebensstandard sind wir geschaffen, sondern um in die Ruhe bei Gott einzugehen. Daher bildet sie den würdigen Abschluss dieser Geschichte.
Mit Kapitel 2,4 beginnt eine neue Betrachtung der Schöpfung. Obwohl die Unterschiede zur vorherigen Geschichte nicht zu übersehen sind, sind Fundamentalisten aufgrund ihrer Prämissen nicht in der Lage, dies anzuerkennen. Stattdessen behaupten sie, es handle sich um eine genauere Beschreibung des sechsten Tages. Deshalb ist es an dieser Stelle notwendig, dass auch wir die Wörter wichtig nehmen, um zu zeigen, dass diese Ansicht unehrlich ist.
In der ersten Geschichte spricht der Text noch vor dem eigentlichen Sechstagewerk über die Erschaffung des Himmels und der Erde. Im weiteren Verlauf werden am dritten Tag Gräser, Kraut und Fruchtbäume geschaffen, während der Mensch am sechsten Tag den krönenden Abschluss der Werke Gottes bildet.
Und Gott sprach: Die Erde lasse Gras hervorsprossen, Kraut, das Samen hervorbringt, Fruchtbäume, die auf der Erde Früchte tragen nach ihrer Art, in denen ihr Same ist! Und es geschah so. Und die Erde brachte Gras hervor, Kraut, das Samen hervorbringt nach seiner Art, und Bäume, die Früchte tragen, in denen ihr Same ist nach ihrer Art. Und Gott sah, dass es gut war. (Genesis 1,11f)
Die zweite Geschichte hingegen spricht nicht von einer mehrtägigen Schöpfung, die ihren Höhepunkt in der Erschaffung des Menschen hat, sondern sagt, dass Gott an dem Tag, an dem er Himmel und Erde machte, auch den Menschen erschuf, und zwar vor allen anderen Dingen, auch bevor Sträucher, Kraut und Bäume aufsprossten:
An dem Tag, als Gott, der HERR, Erde und Himmel machte — noch war all das Gesträuch des Feldes nicht auf der Erde, und noch war all das Kraut des Feldes nicht gesprosst, denn Gott, der HERR, hatte es noch nicht auf die Erde regnen lassen, und noch gab es keinen Menschen, den Erdboden zu bebauen; ein Dunst aber stieg von der Erde auf und bewässerte die ganze Oberfläche des Erdbodens -, da bildete Gott, der HERR, den Menschen, aus Staub vom Erdboden und hauchte in seine Nase Atem des Lebens; so wurde der Mensch eine lebende Seele. (Genesis 2,4–7)
Dies ist schlicht eine andere Weise, die Bedeutung des Menschen herauszustreichen. Deshalb denken wir nicht, dass dies widersprüchliche Aussagen sind, sondern dass es sich um zwei Geschichten verschiedenen Aufbaus mit unterschiedlichen Nuancen handelt. Wenn man sagt, Gott habe zwar schon am dritten Tag die Gräser, Sträucher und Bäume geschaffen, die Gewächse selbst sprossten aber erst, nachdem Adam schon lebte, widerspricht das dem Text, heißt es doch in Genesis 1,12 ausdrücklich: „Und die Erde brachte Gras hervor …“. Außerdem kann man damit nicht erklären, dass in der zweiten Geschichte die Erschaffung des Menschen an dem Tag war, an dem Gott Himmel und Erde machte.
Der Abschnitt Genesis 2,4–3,24 beschreibt uns also nicht den sechsten Tag im Detail. Und auch hier finden wir nichts im naturwissenschaftlichen Sinne Verwertbares. Jedoch werden uns viele geistlich wichtige Inhalte vermittelt. Das biologische und geistliche Leben kommt von Gott – der Atem des Lebens wird eingehaucht. Der Mensch ist seinem irdischen Wesen nach gering und vergänglich — aus Staub gemacht. Doch ist er Herr über den Rest der Schöpfung – er gibt den Tieren Namen. Mann und Frau passen vollkommen zueinander – die Frau wird aus Adams Rippe gebildet. Die Beziehung zu Gott und zwischen ihnen war rein – sie lebten im Paradies und schämten sich nicht. Satans listige Anstachelung zum Stolz war Anlass für die erste Sünde – das Gespräch zwischen der Frau und der Schlange. Die ungetrübte Beziehung zu Gott wurde dadurch zerstört – die Vertreibung aus dem Paradies. Die Beziehung zwischen den Menschen ist seither von Herrschsucht und falschen Erwartungen geprägt – Gott spricht Flüche über den Menschen aus. Auch das von Gott dem Menschen zugedachte ewige Leben ist vorerst verwirkt – der Zugang zum Baum des Lebens wird verwehrt. Gott verlässt die Menschen aber nicht und kündigt schon die Erlösung aus der Macht der Sünde an – Kampf und Sieg des Nachkommens der Frau über den Nachkommen der Schlange. All diese und noch andere Lehren verkündigt uns Gott durch diese von Anthropomorphismen und anderen Bildern durchzogene Geschichte.
Menschen, die Gott und sein Wort ablehnen, machen sich mitunter über diese Texte lustig, indem sie diese wörtlich auslegen. Doch tun sie das zu ihrem eigenen Schaden. Wer aber darauf beharrt, die Schöpfungsgeschichten als Tatsachenberichte zu verstehen, spielt nicht nur solchen Spöttern in die Hände. Er vermittelt damit auch ein falsches Bild von dem, was Glauben heißt. Ursache für solche Fehlinterpretation ist meist nicht schlichter Irrtum, sondern Ungehorsam gegenüber den Geboten und Lehren Jesu und der Apostel.
Fundamentalismus statt Gehorsam
Es ist sicher keine Schande, wenn man beim Lesen der Bibel Ausdrücke oder Bilder wörtlich nimmt, die so nicht gemeint sind. Durch tieferes Nachdenken und Offenheit für Gottes Botschaft wird man immer besser unterscheiden lernen, was Gott uns für unser Leben zeigen will, wie der Mensch Gottes richtig sei. Häufig aber begegnen uns Menschen, die felsenfest von der Erschaffung der Welt in sechs Tagen überzeugt sind und ihren Glauben an Gott eben dadurch definieren. Die gleichen Menschen halten wiederum Lehren und Praktiken aufrecht, die zwar heute üblich sind, dem Neuen Testament und den ersten Christen jedoch völlig fremd waren. Wir beziehen das vor allem auf die Anerkennung von unterschiedlichen „Kirchen“ mit verschiedenen Lehren. Es stellt eine Ignoranz ungeheuren Ausmaßes dar, den Inhalt des Gebetes Jesu für die Einheit der Gläubigen in Johannes 17 mit der oberflächlichen Bemerkung zu erklären, dass man ja eins in Christus sei. Die offensichtlich fehlende Verbundenheit und Einheit in Gott versucht man dann bei Treffen mit gefühlsbetontem „Lobpreis“ oder durch Veranstaltungen mit redegewandten „Predigern“ vorzutäuschen. Bruderliebe, wie von Jesus geboten (Johannes 13,34f) und von den Aposteln vorgelebt (1 Thessalonicher 2,1–12), wird meist gar nicht angestrebt, da man viel Zeit für Beruf, Familie und Hobby investiert. Aber den Sonntag – oder manche auch den Sabbat — hält man „heilig“, indem man zur „Versammlung“ geht. Diese Treffen wiederum sind weitgehend von Formalismus und Gleichgültigkeit geprägt, die geistliche Beteiligung aller ist nicht vorgesehen, ganz im Gegensatz zur apostolischen Lehre (1 Korinther 14,24–31). Diese sogenannten Gottesdienste widersprechen in Wahrheit auch dem, was laut Paulus Gottesdienst bedeutet (Römer 12,1–2). Das Zeugnis der ersten Gemeinden, dass sie ein Herz und eine Seele waren (Apostelgeschichte 4,32), entkräftet man mit Hinweis auf die Probleme, die im Neuen Testament sichtbar werden. Da ist man ganz „biblisch“ und wird nicht müde, die Sünden der Korinther und anderer zu betonen, gerade so, als ob der Sinn dieser Überlieferungen darin bestünde, Rechtfertigungen gegen die Kritik an der Lauheit zu liefern. Die Liebe der ersten Christen, die im Teilen der Güter ihren echten Ausdruck fand, verunglimpft man leichtfertig als unnüchterne Anfangseuphorie und nimmt dabei gern in Kauf, den Gläubigen samt den Aposteln einen gravierenden Irrtum zu unterstellen, damit man ruhigen Gewissens im Egoismus verharren kann.
Des Weiteren gibt es Gruppen, die es wagen, Wiederkunftsvorhersagen zu treffen und damit die Aufmerksamkeit von unbefestigten Menschen auf die angeblichen Zeichen der Zeit zu lenken, wo doch Christus selbst seinen Jüngern sagte, dass es ihnen nicht zustehe, Zeiten und Zeitpunkte zu wissen (Apostelgeschichte 1,6–7). Obwohl sich alle bisher „prophezeiten“ Daten als falsch erwiesen haben, halten solche Irrlehrer mit kaum zu überbietender Halsstarrigkeit an ihren jeder Grundlage entbehrenden Berechnungen aus den Büchern Daniel und Offenbarung fest. Ihre Irrtümer sind für sie kein Grund, ihren groben Ungehorsam abzulegen. Im Gegenteil, die angeblich vom Heiligen Geist geleiteten Führer bieten immer neue Erklärungen für die Verzögerungen und verstricken sich selbst und ihre Anhänger immer weiter in die Lügen, nur um ihre Existenzberechtigung nicht zu verlieren.
Die Liste der Verirrungen ließe sich fortsetzen. So wie Jesus den religiösen Führern seiner Zeit vorwerfen musste, dass sie die Mücke seihen, das Kamel aber verschlucken, ist auch bei vielen angeblich bibeltreuen „Christen“ die gleiche, von Heuchelei geprägte Verdrehung der Schrift zu erkennen. Wir hoffen, dass diese Ausführungen helfen, den Irrtum des Fundamentalismus zu erkennen. Nicht absolute Fehlerlosigkeit macht die Bibel groß, sondern die klare Botschaft von Gottes Liebe, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, von geistgeführten Menschen erfahren und bezeugt. Wenn wir seine Gebote aus ganzem Herzen befolgen, sind auch wir ein lebendiges Zeugnis für die Wahrheit der Schrift.
- Mehrheitstext ist der Name einer Texttradition des Neuen Testaments, die sich auf eine Mehrheit von neutestamentlichen Handschriften stützt. Die meisten dieser Manuskripte sind allerdings relativ späten Ursprungs (ab 9. Jahrhundert). ↩
- Paläografie ist die Lehre von alten Schriften. Aufgabe der Paläografie ist es, die lebendige Entwicklung der Schrift in ihren Einzelheiten anhand der überlieferten Schriften nachzuvollziehen. Paläografische Kenntnisse helfen dabei, verschiedene Schriftarten in ihren Entwicklungsphasen zu erkennen und dadurch undatierte Schrift- und Literaturdenkmäler räumlich und zeitlich einzuordnen. ↩
- Textus receptus (lat. für der überlieferte Text) nennt man jene Textform des griechischen Neuen Testaments, die in den weit verbreiteten Druckausgaben des 16. und 17. Jahrhunderts zu finden ist. Er beruht weitgehend auf späten Manuskripten des Mehrheitstextes ↩
- Da die hebräische Schrift keine eigenen Zahlzeichen kannte, hatten die Buchstaben auch einen Zahlenwert. ↩